Auf dem Schreibtisch des US-Präsidenten Donald Trump befand sich ein roter Knopf, den er Journalisten mit der Bemerkung zeigte, „alle werden nervös“, wenn er zu nahe an ihn komme. Dies konnte die Sorge aufkommen lassen, er könne damit womöglich Atomraketen starten. Aber Trump bestellte damit nur Getränke, wie der Focus im April 2017 seine Leser beruhigen konnte. Ob eine solche Leichtigkeit des Seins der Philosoph der Anti-Atomtod-Bewegung, Günther Anders, komisch fände? In seinen Ketzereien (1982) erklärte Anders immerhin einmal: „komisch ist alles, was ohne katastrophal zu sein, ist, obwohl es eigentlich nicht sein kann“ (S. 293), das also irgendwie aus dem Rahmen fällt.
Die Möglichkeit einer atomaren Totalkatastrophe war das Kernthema von Günther Anders, nicht zuletzt in seinem 1972 publizierten Buch Endzeit und Zeitende (1972), das unter dem Titel Die atomare Drohung – Radikale Überlegungen noch mehrere Auflagen erleben sollte. 50 Jahre ist die Erstpublikation besagten Buches in 2022 her, dem Jahr, in dem sich auch Geburtstag und Todestag von Anders zum 120. bzw. 30. mal jähren.
Anders wurde am 12. Juli 1902 in Breslau als Sohn des jüdischen Kinderpsychologen William Stern geboren. Er hatte in den 1920er Jahren eine akademische Laufbahn anvisiert, hörte in Marburg und Freiburg bei Martin Heidegger, promovierte bei Edmund Husserl – und scheiterte 1931 mit einer Habilitation an Theodor W. Adorno mit einer musikphilosophischen Arbeit, die erst 2017 postum publiziert wurde. Nach dem der Nationalsozialismus 1933 an die Macht kam, emigrierte Anders zunächst nach Frankreich, dann in die USA, kehrte nach dem Krieg aber nach Europa zurück, nach Wien, wo er am 17. Dezember 1992 verstarb.
Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki waren für Anders in Die atomare Drohung mit dem Begriff der „Monstrosität“ zur Sprache zu bringen. Der 8. August 1945 war für Anders entsprechend „Das monströse Datum“ (S. 186), das ihm in Nagasaki ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeutete. Nur sei nie ein internationales Militärtribunal damit befasst gewesen, jemanden zur Rechenschaft zu ziehen. Dass der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation objektiv mehr herstellt und anstellt als er sich subjektiv vorstellen kann, lautete die Folgerung von philosophisch-anthropologischer Tragweite. Verdichtet wurde diese Aussage zur Antiquiertheit des Menschen (1956/1980), wie das zweibändige Hauptwerk von Anders (1956/1980) heißt. Der Mensch ist seiner eigenen Technik nicht gewachsen, er wird museumsreif und droht sich selbst auszulöschen. Damit ist das Zentrum des Denkens von Anders erreicht, welches er auf den Begriff „Diskrepanzphilosophie“ brachte, wie er in einem Interview mit Fritz J. Raddatz 1985 erklärte (in: Günther Anders antwortet, 1987, S. 104). Es sei dies eine Diskrepanz, die den Menschen definiere und die sein Schicksal sei. Wer sich an Konrad Lorenz erinnert fühlt, wird nicht falsch liegen, dessen Schlussfolgerungen aber nur nicht ganz so radikal waren, wenn er in Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit (1973) zwar die Möglichkeit einräumte, ein Psychopath könnte den Knopf für den Abschuss von Atomraketen betätigen, aber ansonsten die verbreitete Weltuntergangsstimmung hier für weniger angebracht hielt als etwa bei der „Verwüstung des Lebensraumes“.
Im Unterschied zu Lorenz konnte Anders noch die Nachwendezeit in Augenschein nehmen, in der die unvorstellbare atomare Drohung durch modernste Waffen fortbesteht. Die neue politische Lage nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erklärte Anders in seinem letzten großen Interview mit Konrad Paul Liessmann vom Herbst 1990 so, dass diese durch den Aufstieg des Islams unübersichtlicher werde. Nuklearwaffen bleiben bestehen und kommen hinzu, weitere Staaten wie der Iran oder das kommunistische Nordkorea sind bemüht, sich zur Atommacht aufzuspielen. Von den Risiken durch Terroranschläge
auf Atomkraftwerke ganz zu schweigen, das Militärs als bestgehütete Geheimnisse pflegen. Zwischen Atombomben und Atomkraftwerken wollte Anders keinen Trennstrich ziehen: „Die Gleichsetzung von Atombomben und Atomkrafwerken ist legitim“ (Günter Anders im Interview mit Heiko Ernst 1986, in: Günther Anders antwortet, 1987, S. 127). Weggewischt war damit Heideggers Denken auf dem Feldweg, wonach die Beherrschung der Atomenergie gelingen werde und dann einen Nutzen bringe. Das waren von Anders radikale Überlegungen, die den pazifistischen Maßstab einer atomwaffenfreien Welt anlegte und die friedliche Nutzung der Atomenergie einbezog. Man beachte hier den Zeitpunkt der Äußerung, kurz nach dem GAU von Tschernobyl. Die Aufregung von damals legte sich auch wieder, nahm mit dem GAU von Fukushima wieder zu und ebbt derzeit wieder ab. Richtig bleibt, dass Atomkraftwerke zum Bau von Atombomben benötigt werden, und die westliche Welt ist dann auch immer wieder alarmiert, wenn „Schurkenstaaten“ Atomkraftwerke bauen.
Befremdend wirkt in dem Interview mit Liessmann (in: Günther Anders zur Einführung, 1993), dass Anders meinte, eine 1989 erfolgte Verständigung der Großmächte beruhe auf einem „wirtschaftlichen Zusammenbruch beider“. Es war doch der sozialistische Ostblock, der wirtschaftlich scheiterte, nicht der marktwirtschaftliche Westen. Der 88jährige Anders ging offenbar davon aus, es seien beide Systeme auf ökonomischer Augenhöhe gewesen. Die Auffassung, dass der Westen „ebenfalls“ wirtschaftlich scheitern werde oder kurz davor war, ist im Neomarxismus nicht ungewöhnlich. Ökonomisches Denken schloss Anders bei seinen Betrachtungen auch ein und stützte sich dabei auf Karl Marx. Vor diesem Hintergrund stellte Anders auch seine Überlegungen zum Militär an: „Es ist völlig unmöglich für die Amerikaner, nachdem sie um den halben Globus gefahren sind mit ungeheuren Mengen von Zerstörungswaffen, daß sie dann unverrichteter Dinge wieder zurückfahren.“ Ähnlich erklärte Anders auch den Atombombenabwurf auf Nagasaki ökonomisch. Anders sah sich selbst als jemand, der Marx „fortgeführt“ habe.
Die Hoffnung Blochs auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz hatte Anders für weltfremd gehalten, wie er überhaupt die Hoffnung zu einem Prinzip zu erklären für verfehlt hielt, weil es sich dabei nur um eine Stimmung handle. Da war Anders dem Antitotalitarismus von Hannah Arendt, seiner ersten Ehefrau, doch mehr verbunden geblieben.
Anders gehörte zu jenen Remigranten, deren Vertrauen in Deutschland nach dem Krieg erschüttert blieb. Nicht zufällig lebte der aus Breslau stammende Anders nach dem Krieg in Österreich, nicht in Deutschland. Die Wiedervereinigung Deutschlands betrachtete Anders mit Sorge und Skepsis. Bei Anders finden sich hierzu biographisch gefärbte Aussagen, aber seine psychologische Bildung ließ ihn auch zu Einsichten kommen, die bemerkenswert sind. Das in Schutt und Asche gebombte Deutschland bedachte Anders in Die Schrift an der Wand (1967) – später in Tagebücher und Gedichte (1985) – mit den Sätzen, dass einzelne Ruinen zu bewahren begrüßenswert sei, etwa die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin, um nicht zu vergessen. Ansonsten müssten die Deutschen auch vergessen, sie hätten das „Recht …, das Verwüstete fortzuräumen. Und auf Denkmäler zu verzichten“. Anders differenzierte zwischen Gedenken an Originalen und nachträglich errichteten Mahnmalen. Bei einem Original denkt der Betrachter dem materialisierten Geist aus der Vergangenheit zu; bei einem künstlichen Gebilde über eine bestimmte Vergangenheit handelt es sich hingegen um den materialisierten Geist des betreffenden Künstlers, nicht um ein Zeugnis der betreffenden Zeit selbst. Hieraus spricht noch die Phänomenologie der Ruine des Philosophen Georg Simmel, welche Anders aktualisierte.
Wie vielen Intellektuellen erschien Anders US-Präsident Ronald Reagan ungebildet. Die besseren Nerven hatte aber Ronald Reagan, mit der er eine Politik des atomaren Kräftegleichgewichts gegenüber der Sowjetherrschaft herbeiführte. Die Ironie der Geschichte: Reagans nervenstarke Politik hatte die Menschheit vor der atomaren Apokalypse bewahrt, vor der Anders so eindringlich wie kein anderer Philosoph warnte. So schnell geht der antiquierte Mensch dann doch nicht per Knopfdruck unter. Die Weltlage bleibt gleichwohl voller Spannungen und hochexplosiv.
Diese Welt kann einen weiterhin mit Sorge erfüllen. Es gibt dann auch heute noch Resolutionen, wonach der Landkreis X oder die Gemeinde Y beschließen möge, sich zur atomwaffenfreien Zone zu erklären. Der Verfasser durfte sich dazu 2021 als Kreisrat und Gemeinderat auch schon positionieren, ob er also nicht doch einmal große Weltpolitik spielen und ein Zeichen setzen wolle. Selbst manchem Ortschaftsrat wird das noch vorgelegt worden sein. Genau das kann einem etwas komisch vorkommen, wenn selbst ein Kommunalpolitiker noch große Weltpolitik spielen will. Vielleicht noch in den Fastenstreik für den atomaren Weltfrieden treten? Auch hier gilt noch immer die Einsicht, das werde die Mächtigen der Welt nicht interessieren, ob jemand „ein Schinkenbrot mehr oder weniger“ verspeist, wie Anders einmal im Interview mit Manfred Bissinger 1986 spitz bemerkte. Denn das werde nur für den, der fastet, eine Wirkung haben, nämlich „Hunger“ beim Fastenden erzeugen und ihm „vielleicht das gute Gewissen“ geben, er habe „etwas getan“ (in: Günther Anders antwortet, 1987, S. 145). Das bleibe ansonsten irrelevant und unernst.
Anders bleibt auch heute noch geistig anregend, sein Briefwechsel mit dem Hiroshima-Bomberpiloten Claude Eatherly etwa ist für das Phänomen von Gewissens- und Arbeitsteilung noch immer eindrücklich – er findet sich dann auch auszugsweise in dem Band Historische Augenblicke: Deutsche Briefe des 20. Jahrhunderts in der Ausgaben von 1988 wie auch 1999. Aber auch Erfahrungswerte aus dem abgeschlossenen 20. Jahrhundert bleiben im 21. neu zu bewerten, um zur Abgeklärtheit beitragen zu können und nicht gegen jede neue Technik in Aktivismus zu verfallen – wenn sie nun einmal wie die Atomtechnologie in der Welt ist und auch nicht mitsamt dem dazugehörigen Wissen rückabgewickelt werden kann.
Bleibt Anders‘ Wort zu erwähnen, mit dem er Karl Marx ontologisch relativierte: Es komme darauf an, „erst einmal, die Welt zu erhalten, ganz gleich, wie sie ist. Dann erst können wir sehen, ob wir sie verbessern können“. Er meinte damit in einem Interview mit Matthias Greffrath aus 1979 (in: Günther Anders antwortet, 1987, S. 46), nicht nur einen möglichen Atomschlag oder GAU, auch die „Naturzerstörung“, „Aids“ und was noch alles nach 1945 dazukommen möge. Das blieb Anders laut seinem Gespräch mit Liessmann ausdrücklich mitzudenken. Ein im Labor manipuliertes Virus, das der Menschheit zusetzt? Alles im Bereich der Möglichkeiten. Das ändert aber nichts daran, dass jede Zeit ihre eigenen Antworten finden muss, wie die Welt am geschicktesten vor ihrer Zerstörung bewahrt werden soll.
Volker Kempf am 11.12.2021 (Autor von „Günther Anders – Anschlusstheoretiker an Georg Simmel?“ (2000)
(S/W-Foto: Eigene Fernaufnahme des mittlerweile stillgelegten AKW Fessenheim).