Auf der Suche nach den Tieren im Schlosspark
Vortrag von Volker Kempf in der Schlosskapelle, Ebnet
Das Barock-Schloss Ebnet ist mit seinem Schlossherren Nikolaus von Gayling-Westphal ein Ort der Liberalität. Denn der Schlossherr ist von einem liberalen Geist beseelt, der die Meinungsfreiheit mit dem dazugehörigen Mut lebt. Das ist heute gar nicht so häufig und selbstverständlich. Immer mehr wird zwischen öffentlicher und privater Meinung unterschieden, weil öffentlich seine Meinung zu sagen sich immer weniger trauen, wie Umfragen belegen. Der Schlossherr gehört also zu den Mutigen und sitzt gewissermaßen auf den Schultern von Ralf Dahrendorf, bei dem er studiert und seine Diplomarbeit geschrieben hat. Daher taucht von Gayling-Westphal auch an zwei Stellen in meinem Buch „Auf der Suche nach den Tieren in der deutschen Soziologie“ als Zeitzeuge auf (auf den Seiten 383, 463). Das ist recht exklusiv, denn nur hier habe ich einmal davon abgewichen, eine reine Literaturstudie zu betreiben, um mir über Dahrendorf etwas klarer zu werden.
Dahrendorf war ein Kenner des großen, mit Freiburg verbundenen Max Weber, er saß gewissermaßen auf seinen Schultern, neben einigen anderen wie dem eine Generation älteren Alexander Rüstow. Das ist wie ein kleiner Ahnenbaum liberaler Köpfe, der Eine war mehr linksliberal, der Andere mehr liberalkonservativ. Das ist so bei der Verwandtschaft, auch der geistigen Verwandtschaft, es gibt Ähnlichkeiten, aber auch Eigenheiten.
An diesem – auch geistigen – Ort liegt es folglich nahe, zunächst auf Ralf Dahrendorf einzugehen. Auch ihm galt meine Suche nach den Tieren in der deutschen Soziologie. Dabei habe ich folgendes Bild gewonnen. Dahrendorf wurde für einige Wochen Teil der Frankfurter Schule, des Instituts für Sozialforschung um Adorno und Horkheimer. Dahrendorf suchte aber rasch das Weite, das wurde nicht seine Welt. Er war ein liberaler Kopf eigenen Schlags. Er hatte mit seiner bekanntesten schrift Homo Sociologicus Ende der 1950er Jahre einen Angriff auf den Funktionalismus in der Soziologie gefahren. Der homo sociologicus ist eine soziale Rollenfigur, nach der der Mensch nur mehr wie ein Hampelmann in Rollen funktioniert. Diesen Idealtypus zu leben wäre unmenschlich. Es bräuchte eine Konflikttheorie. Das traf einen Schwachpunkt bei dem Funktionalisten Talcott Parsons, blieb aber selbst einseitig. Dies passte aber zu den unruhiger werdenden 1960er Jahren, in denen an den Insititutionen zunehmend gerüttelt wurde, Altes sollte als Traditionalismus abgestoßen werden: „Unter den Talaren, der Muff von 1.000 Jahren“ lautete damals die Parole. Es wurde eine ungemütliche, konfliktreiche zeit. Mit seiner Betonung des Konflikts als Teil gesellschaftlicher Normalität erwies sich Dahrendorf in praktischer Konsequenz als ein Liberaler, der in der Öffentlichkeit auch mit Rudi Dutschke diskutierte und ihm in Freiburg mit Argumenten begegnete. Das ist eine gelebte Liberalität, die Respekt einfordert.
Dahrendorf schätzte Ludwig Erhards marktwirtschaftliche Orientierung. Gleichwohl wurde Dahrendorf nach meiner Einschätzung Bundeskanzler Erhard (CDU) nicht ganz gerecht. Erhards Diktum vom Maßhalten stand Dahrendorf für viele kostenintensive Projekte – wie den raschen und massiven Ausbau der Hochschullandschaft – im Wege. Dabei hat sich Erhard als bedenkenswert erwiesen. Sein Diktum vom Maßhalten war sachgerecht, es ging dabei darum, in zeiten abflachenden Wirtschaftswachstums sparsam zu haushalten um auch über die Zeit in wichtige strukturen wie Krankenhäuser, intlte straßen etc. investieren zu können. Ohne dieses Diktum vom Maßhalten ging die Geschichte weiter in Richtung einer uns heute immer deutlicher werdenden Schuldenfalle, aus der herauszufinden guter Rat teuer ist.
Dahrendorf hatte sich, um uns den Tieren anzunähern, auch mit der aufkommenden Umwelt- und Ökologiebewegung befasst. Er pflegte eine Distanz zu „grünen“ Bewegungen. Aber mit der Zeit dachte Dahrendorf auch hier weiter, wenn er sich in seinen letzten Jahren dem Aussterben von Tierarten annahm und die Selbstgefährdung des Menschen anerkannte. Auf der Suche nach den Tieren findet sich bei Dahrendorf ein leicht zu übersehender, aber bemerkenswerter Wink im Zusammenhang des für ihn zentralen Begriffs der Lebenschancen, den er von Max Weber her behandelte. Er entwickelte in seinem Buch, das besagtes Stichwort als Titel trägt, indem er auf John Stuart Mill verwies. Das ist für das Thema der zentrale Fundus bei Dahrendorf, zu dem ich hier aus meinem Buch den entscheidenden Absatz vorlesen möchte (S. 473 f.):
Dahrendorf stellte sich am Ende des von 1967 bis 1977 währenden „roten Jahrzehnt[s]“ der Problematik neu, in welchem Rahmen Lebenschancen für möglichst viele offen bleiben konnten. Dazu zählten für Dahrendorf „Rechtsstaat und Marktwirtschaft“ und die Tradition, in einer Zeit, in der die „Kirche zur Tauf- und Beerdigungsanstalt“ entleert sei. Er stellte für den Begriff Lebenschancen (1979) auf John Stuart Mill (1806–1873) und dessen Begriff vom Nutzen ab, der, so Dahrendorf, die Möglichkeit einer Steigerung einräumte. Als „Prinzip des Größten Glücks“ im utilitaristischen Sinne würde, den Nutzen zu mehren, nach Mill nicht nur „auf die gesamte Menschheit“ anzuwenden sein, sondern sollte „so weit es die Natur der Dinge zuläßt, auf die gesamte fühlende Schöpfung‘ ausgedehnt werden“. Damit war in den Blick genommen, dass einen Nutzen für Menschen zu mehren, unter Wahrung eines Kulturanspruchs nicht von anderen fühlenden Wesen absehen kann. Dahrendorf verfolgte den tierbezogenen Aspekt dieses für Rüstow „weichmütigen“ Denkers Mill mit einem Zug zu „wirtschaftlichen Folgerungen […] in kollektivistischer Richtung“ nicht weiter.
Lord Ralf Dahrendorf war mit Großbritannien eng verbunden, von daher war es, für einen letztlich deutsch-britischen Soziologen, naheliegend, mit dem Briten John Stuart Mill aufzuwarten. Großbritannien ist, was die geistige Vorbereitung und rechtliche Durchsetzung von Tierschutz anbelangt, ein Vorreiter innerhalb Europas. Man denke auch an die britische Quäkerin Ruth Harrison, mit ihrem in den 1960er Jahren aufrüttelnden Buch „Tiermaschinen“, das ein Vorwort der Öko-Bestsellerautorin Rachel Carson enthält.
Vertiefen will ich nun die Miniaturwelt von Mensch-Tier-Verhältnissen im Schlosspark, worüber man sicher ein eigenes kleines Büchlein schreiben könnte. Auf jeden Fall gibt es hier einiges an Anschauungsmaterial. Anschaulich wird hier, dass sich den Tieren zu nähern und in eine Beziehung zu ihnen zu treten eine Freude bereitet. Die vom Schlossherren ausgerichtete Storchenfütterung, der wir heute beiwohnten, legt hiervon beredt Zeugnis ab, wir alle haben sie aufmerksam und gespannt verfolgt. Der heute im Mittelpunkt stehende Storch ist hierbei nur ein augenfälliges Symboltier, vor allem auch ein Symboltier für das nahegelegene Elsass, zu dem der Schlossherr mit seiner Familiengeschichte bis heute eine besondere Beziehung pflegt. Aber auch klassische Nutztiere finden wir hier im Park, Ziegen und Hühner. Wer diese Tierwelt betrachtet, findet eine vom Menschen geordnete Welt vor. Alle sind miteinander verbunden. Auch eine Katze hat ihren Platz eingenommen. Ohne Hege und Pflege der Tiere geht hier nichts, sie ist die Voraussetzung für die Begegnung mit Tieren.
Mit Tieren im Leben zu stehen ist faszinierend. Wir haben evolutionsbiologisch bedingt auch Tierisches in uns, ist der Mensch auch ein sonderbares Wesen im Vergleich zu den Tieren. Nur der Mensch kann schuldig werden, weil er die Freiheit hat, sich so oder auch anders zu verhalten. Immer bleibt im Verhältnis Mensch und Tier der Tod ein unangenehmer Gast, da führt kein Weg darum herum. Hühner etwa, die es auch auf dem Schloss-Gelände gibt, müssen geschlachtet werden. Alleine durch unsere jeweilige Existenz, kann anderes Leben nicht existieren, es wird verdrängt. Das ist so elementar, wie jeder im Kino besetzte Stuhl keiner anderen Person mehr zur Verfügung steht.
Ein Schlosspark ist mit den dazugehörigen Tieren ein Idyll. Das fällt heute aber auch in eine Zeit der technischen Revolution, die seit der Entstehung des Schlosses Mitte des 18. Jahrunderts, erst fahrt aufnahm. Die technische Revolution weckt mit ihrer Veränderung der Lebenswelt ein Bedürfnis nach Nostalgie. Ein Barock-Schlosspark ist heute ein Teil einer hochmodernen komplexen Gesellschaft. Bleibt man bei den Tieren, zeugt davon schon die Salami auf der Pizza, sie kommt nicht aus dem Schlosspark, sie wird arbeitsteilig produziert. Anders geht das auch kaum, vor allem wenn die Massen einer Großstadt wie Freiburg versorgt werden sollen.
Wer den Kreislauf des Lebens aus eigener Anschauung kaum kennt, bekommt sie auf dem Bildschirm nach Hause geliefert. Vielleicht sind auch Bilder von schlecht behandelten Tieren dabei. Das ist auch wichtig, weil nur so Mißstände, die es immer gibt und geben wird, erkenntlich werden und behandelt werden können. Aber es ist auch die Verführung groß, nur mehr Zerrbilder wahrzunehmen und sich damit Illusionen über die Arbeit mit Tieren zu machen. Dann werden kaum umsetzbare Forderungen laut. Daraus resultieren leicht Konflikte. Bauern, die Tiere halten, werden anteilig immer weniger in unserer Gesellschaft, sie werden kaum real wahrgenommen und stellen keinen signifikanten Machtfaktor mehr dar. Hier ist es wichtig in den Dialog zu finden.
Damit bin ich wieder bei der Liberalität im Sinne von Meinungsfreiheit und Dialog angelangt. Wie Dahrendorf einst in Freiburg mit Dutschke öffentlich diskutierte, das war gestern. Heute ist mit den Bauern das Gespräch zu suchen, die sich ihre Problemlagen nicht ausdenken, sondern aus eigener Betroffenheit heraus etwas über ihr schwer gewordenes Berufsleben zu berichten haben. Bei aller Beschäftigung mit den Tieren, sollten die Menschen, die mit ihnen arbeiten, nicht vergessen oder wie fremde Wesen behandelt werden; sie mögen gefordert werden, sollten aber immer auch hinreichend verstanden sein. Nicht über das System, die Marktwirtschaft, gilt es zu klagen und sie womöglich beseitigen zu wollen. Dagegen argumentierte auch Dahrendorf immer, es blieb ihm wichtig, sich gestaltend einzubringen. Das gilt auch dort, wo es um Verhältnisse von Mensch und Tier geht und worfür er zumindest einen bemerkenswerten Wink gab.
Ich schließe damit: Die Beziehungen zu Tieren sind in der komplexen Gesellschaft von heute unübersichtlich geworden. Umso mehr beeindruckt uns in Ebnet die Übersichtlichkeit eines so konkret anmutenden Lebens mit Tieren im Schlosspark. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Volker Kempf, Vortrag vom 19.6.2025 in Freiburg-Ebnet, text am 20.06.2025 durchges. und bearb.)